Zugleich Besprechung von Amartya Sen, The Idea of Justice, London: Penguin Books 2010, 468 pp., PB, ISBN: 978-0-141-03785 1.
RECHTSTHEORIE 43 (2012), S. 1–9
Duncker & Humblot, 12165 Berlin

Einleitung
Die Gerechtigkeit kommt oft als ein triviales Thema im alltäglichen Familienleben vor. Ein typisches Beispiel für einen heftigen Streit ist, dass sich drei Kinder um den Anspruch auf Nutzung einer Flöte streiten. Anne verlangt das Instrument für sich, weil sie als Einzige von den Dreien Flöte spielen kann. Bob begründet seinen Anspruch damit, dass er überhaupt kein eigenes Spielzeug hat. Clara behauptet, dass kein anderer etwas beanspruchen darf, was sie selbst hergestellt hat.
Wie sollen die Eltern entscheiden, um die Ruhe im Hause wiederherzustellen, wenn sie jedem Kind gerecht werden wollen? Mit diesem Beispiel führt Sen den Leser in seine Gedankenwelt zur politischen Theorie der Gerechtigkeit in seinem neuen Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ hinein.
Inhaltlich bietet Sen, Professor für Ökonomie und Philosophie an der Harvard Universität und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 1988, einen Überblick über die philosophischen Denkgebäude von Thomas Hobbes, John Locke, Immanuel Kant, Adam Smith, Marquis de Condorcet, Mary Wollstonecraft, Karl Marx und John Stuart Mill und betrachtet insbesondere die Theorie von John Rawls kritisch.
Als indischer Wirtschaftwissenschaftler und Wirtschaftphilosoph ist er mit dem Lehren des Buddhismus und des Hinduismus vertraut und vergleicht diese in seiner Arbeit mit der abendländischen Philosophie. Sein Ziel ist es, eine Grundlage für die praktische Philosophie zu beschreiben und seine Argumentation auf Debatten und Entscheidungen der politischen Praxis zu beeinflussen.
Der Ausgangspunkt seiner Argumentation ist: Der öffentliche Vernunftgebrauch ist eine unbedingte Voraussetzung für die Verwirklichung der Gerechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Die Untersuchung von Sen gliedert sich in vier Teile.
Der erste Teil mit dem Titel „Die Anforderung der Gerechtigkeit“ gibt einen Überblick über Begriffe und einen möglichen Zugang zur Gerechtigkeit.
Der zweite Teil geht der Frage nach, welche Formen des Argumentierens es gibt, die wir heute praktizieren können.
Der dritte Teil befasst sich mit der Frage, wie wir mit unserer Befähigung umgehen und Handlungsspielräume schaffen können.
Der vierte Teil der Arbeit schließlich untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Vernunftgebrauch und der Demokratie gibt. Die folgende Besprechung wird auf die Analyse der Gerechtigkeit bei Sen eingehen.
Bedeutung von der Einzelfallgerechtigkeit
Der erste Teil der Arbeit untersucht die Problemrelevanz und die Fragestellung. Zur Verdeutlichung der Thematik werden Zusammenhänge zwischen Vernunft und Objektivität dargestellt und die Theorie der Gerechtigkeit und die Rolle von Institutionen für den Menschen kritisch untersucht.
In einer ersten Annäherung an die Thematik werden die Fragen der Unparteilichkeit und Objektivität von kollektiven Entscheidungen erörtert. Einführend geht der Autor auf die begrifflichen Grundlagen der Gerechtigkeit aus der Sicht der alten indischen Rechtstheorie ein und erörtert eine klassische Unterscheidung der Gerechtigkeit: Niti und Nyaya.
Der Begriff Niti bezeichnet unter anderem die Korrektheit von Organisationen und Verhaltensweisen, während Nyaya für ein umfassendes Konzept von verwirklichter Gerechtigkeit steht. Der gebräuchliche Fachausdruck matsyayaya, Gerechtigkeit in der Welt der Fische, deutete darauf hin, dass ein dicker Fischer immer das Recht des Stärkeren hat. Schon im früheren indischen Denken waren die Beziehungen zwischen diesen beiden Begriffen höchst umstritten.
Im Streben der Gerechtigkeit gab es einen Meinungsstreit zwischen dem Berater Kautilya und dem König Ashoka. Kautilya war der Berater von Ashokas Großvater Chandragrupta und der Verfasser der indischen Politischen Ökonomie. Kautilya schätzte die Rolle der Institutionen und der strengen Verbote für eine erfolgreiche Politik. Nach seiner Auffassung waren Einschränkungen und Bestrafungen unabdingbar für die Förderung der Gerechtigkeit. Deshalb waren Aufklärung und Belehrungen weniger bedeutsam.
Im Gegensatz zu Kautilya erwartete König Ashoka, dass eine soziale Verbesserung erreicht werden könne, wenn gutes Verhalten der Bürger auf gute Erziehung und freiwillige Entscheidung traf und nicht mit Staatsgewalt und Drohung erzwungen wurde.
Ausgehend von den buddhistischen Lehren der Toleranz, trat er gegen Intoleranz gegenüber Religionen anderer Menschen an und postulierte, dass Menschen auf Grund ihrer Verbundenheit mit ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft keine respektlose Haltung anderen Glaubensgemeinschaften gegenüber zeigen dürfen, weil sie sonst ihrer eigenen Gemeinschaft schwersten Schaden zufügten. Die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit über Gerechtigkeit ist ein bedeutendes Element des menschlichen Lebens.
Um eine subjektive und lokal beschränkte Beurteilung zu vermeiden, empfiehlt Sen uns, auf den Begriff „unabhängiger Betrachter“ von Adam Smith zurückzugreifen. Es geht dabei primär nicht um persönliches Interesse oder Priorität, sondern um eine neutrale Position, die wir in jeder Lebenssituation einnehmen sollen.
Wichtig ist daher, dass wir uns die von Adam Smith gestellte Frage beantworten: „Was würde ein unparteiischer Betrachter dazu sagen?“ Mit der Einführung des unparteiischen Beobachters werden Moral und Recht auf eine neue Grundlage der Gerechtigkeit gestellt. Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen den Konzepten von Rawls und Sen.
Ersterer besteht darauf, dass wir unsere ungewisse Ausgangssituation aus einer gewissen Institution heraus betrachten (transcendental institutionalism) (S. 5). Transcendental ist eine Eigenschaft der Institutionen, die Gerechtigkeit garantieren sollen. Es geht dabei nicht um einen Vergleich von mehr oder weniger Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, wohl aber um eine Suche nach Vollkommenheit vorwiegend auf das richtige Verständnis der Institutionen und nicht unmittelbar auf die tatsächlichen Gesellschaften, die am Ende entstehen (S. 6).
Im Gegensatz hierzu will Sen mit dem komparativen Ansatz (realization-focused comparison) anfangen, weil die Institution nur ein Aspekt unter anderen in der komplexen Welt ist.
Da die Ausgangspositionen der Menschen in der Gesellschaft sehr unterschiedlich sind, können sie ihre eigenen Zwecke verfolgen, ohne an irgendeine Institution gebunden zu sein. Die wohl wichtigste Beobachtung dazu ist, dass sich Rawls fast ausschließlich auf vollkommen gerechte Institutionen bezog und die Normen des rechten Verhaltens nicht umfassend untersuchten.
Vor allem kann Rawls nicht überprüfen, ob seine Theorie Leitfaden für die richtige Wahl von Strategien im Einzelfall sein kann und soll. Anstatt eine Gerechtigkeitstheorie zu generalisieren, müssen wir eine bestimmte Sachlage langfristig betrachten und dann untersuchen, ob es überhaupt ein adäquates Kriterium zur Beurteilung für Gerechtigkeit in diesem einzelnen Fall gibt. Aus diesem Grund ist der Erklärungsansatz von Rawls ergänzungsbedürftig
Die hier unterbreitete Idee eines komparativen Ansatzes ist nicht neu. Vorschläge dafür wurden bereits verschiedentlich gemacht, insbesondere von Jean-Charles de Borda und Marquis de Condorcet, zwei französischen Mathematikern aus dem XVIII. Jahrhundert.
Mit Hilfe des Aggregationsverfahrens entwickelten sie den Ansatz der Theorie der kollektiven Entscheidungen. Sie fragten nach, wie eine bestimmte Priorität der Einzelnen zu einer gesellschaftlichen Entscheidung führen kann und ob die Mathematiker mit Hilfe von Formeln diesen Prozess besser erklären könnten. Die Theorie stieß allerdings bei ihrer Anwendung auf Grenzen.
Problematisch ist vor allem die Frage der Asymmetrie der Informationen bei Beurteilungen der Gerechtigkeit. Zur Verbesserung der Anwendungsmöglichkeit seiner Theorie betonte daher Condorcet die wichtige Rolle der Schulbildung der Frauen und die Informationsversorgung im öffentlichen Entscheidungsverfahren.
Diese Erkenntnisse wurden von Kenneth Arrow, einem amerikanischen Ökonom des 20. Jahrhunderts, weiterentwickelt und später als das Arrow-Unmöglichkeitstheorem bezeichnet.
Aber obwohl das Arrow-Theorem einflussreicher war als die anderen Denktraditionen, erklärte Arrow pessimistisch, dass es kein Verfahren gesellschaftlicher Entscheidungen gebe, das als demokratisch und rational zu charakterisieren sei. Insgesamt kann man diese Arbeit als einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der modernen Social Choice-Theorie bezeichnen.
Wenn die Bedingungen für eine Realisierung der Social Choice Theorie nicht alle erfüllt sind, müssen die Theoretiker der kollektiven Entscheidungen nach Auffassung der Verfassers konkreter vorgehen, indem sie die tatsächlichen Bedürfnisse der verschiedenen Gruppe in der Gesellschaft (z. B. Armut, Analphabetismus, Krankheit und Diskriminierung) mit Sorgfalt erwägen.
Dabei erweisen sich vor allem der intra-personale und der inter-persönliche Nutzenvergleich als entscheidend für die Problemlösung.
Vor diesem Hintergrund hat sich Sen der Frage angenommen, wie wir praktisch weiter vorgehen können. In Zentrum seines Interesses steht die Frage der Formen des Argumentierens.
Die Formen des Argumentierens
Der zweite Teil besteht aus vier Kapiteln, in denen Sen spezifische Formen der Argumentation unter bestimmten Umständen vorstellt, wobei er die buddhistische Lehre von der Interdependenz der Welt mit der Theorie des rational choice vergleicht.
In einer globalisierten Welt wird die Einführung des unparteiischen Beobachters von Adam Smith unbedingt notwendig.
Bedeutsam ist, dass Eigennutz, Sympathie und Verpflichtung für das gesellschaftliche Zusammenleben zusammengehören. Wer heute auf globaler Ebene mit Gerechtigkeit argumentiert, muss davon ausgehen, dass Nutzenmaximierung und Konsumentenwohlfahrt nicht als elegante Effizienzkriterien anzusehen sind; diese Sichtweise wird nicht mehr als ein überzeugendes Argument für rationales Handeln akzeptiert.
Im Lichte der Kritik sind Utilitarismus und Rationalismus ein unzureichender Maßstab für eine Handlungsgrundlage. Die Vertragstheorien sind ebenfalls nicht mehr hinreichend für eine Verpflichtungsstruktur in einer modernen Gesellschaft. Sen unterscheidet zwei Ebenen von Beziehungen: Der Nutzenvergleich auf persönlicher Ebene ist vielleicht leichter lösbar, da die Abhängigkeit der Beteiligten voneinander aufgrund der vertraglichen Gegenseitigkeit gegeben ist.
Problematischer wäre es, wenn die gesellschaftlichen Beziehungen mit Verantwortung, Verpflichtung und Macht verbunden sind. Von daher ist der Nutzenvergleich komplizierter geworden, besonders wenn die Gefahr des Machtmissbrauchs erkennbar ist. Ein Beispiel dafür ist die asymmetrische Beziehung zwischen Menschen und Tieren.
Dazu bietet die buddhistische Lehre ein alternatives Denkmodell: Wir haben Verantwortung gegenüber Tieren, weil zwischen ihnen und uns eine Asymmetrie besteht; es kommt bei diesem Verhältnis keine vertragliche Grundlage in Frage.
Die Asymmetrie gibt uns eine einzige Möglichkeit, nämlich die, dass wir mehr Macht haben. Gerade aus diesem Grund tragen wir Tieren gegenüber eine besondere Verantwortung.
Sicherlich gibt es verschiedene Wege zur Begründung, wie wir vernünftiger handeln können, um Verantwortung zu übernehmen. Aber die wechselseitige Kooperation aus der Nutzengrundlage heraus ist weniger überzeugend um eine ungleiche Beziehung zu argumentieren.
Beurteilung der Handlungsfähigkeiten im Rahmen der Freiheitsverwirklichung
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den Fragen von Freiheit, Glück und Gerechtigkeit. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Frage, was wir mit unserer Fähigkeit zum Streben nach Gerechtigkeit unternehmen.
Die Kritik von Sen richtet sich generell gegen die klassische Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Die ökonomischen Indikatoren zur Berechnung der Wohlfahrtsteigerung (z. B. die Daten des Bruttonationaleinkommens und des Bruttoinlandsproduktes) geben uns nicht mehr zuverlässige Auskunft darüber, was wir heute tatsächlich benötigen.
Es sei für uns die Zeit gekommen, unsere konzeptionellen Überlegungen über die Wohlfahrtsökonomie zu ändern, insbesondere neue Indikatoren für Lebensqualität, Wohlstand und Freiheit aufzunehmen.
Allerdings vertritt Sen bei der Rekonstruktion des Gerechtigkeitsdenkens die Position, dass wir nicht die Vorteile und Nachteile im Hinblick auf das utilitaristische Gesamtinteresse gegeneinander abwägen sollten, weil sowohl unsere Lebensführung als auch unsere Selbstbestimmung in Bezug auf die Lebensweise bedeutsamer geworden seien, während der Utilitarismus die Autonomie des Einzelnen und die Freiheitsrechte der Anderen nicht ernst nehme. Das bedeutet, dass wir gleichzeitig die private und öffentliche Autonomie sichern müssen.
Auf der Suche nach Gerechtigkeit im Rahmen einer modernen Gesellschaft handelt es sich nach der Auffassung von Sen lediglich um eine Beurteilung der individuellen Fähigkeiten, Neigungen und Interessen in den jeweiligen Lebenssituationen.
Aber: Wenn die Pluralisierung der Lebensformen in der modernen Gesellschaft problematisch geworden ist, was können wir im Hinblick auf die Pluralität der Kollektive und Individuen tun?
Das ist ein wichtiges Thema, das Sen in der Diskussion der Freiheitsverwirklichung beleuchtet. Sen geht davon aus, dass wir im Streben nach Gerechtigkeit nicht nur Positives unternehmen können, sondern auch die Hindernisse für die Realisierung der individuellen Freiheit abbauen müssen.
Zur Dynamisierung der Lebensverhältnisse dürfen wir nicht von einer Chance träumen und solange warten, bis sie kommt. Freiheit ist kostbar, weil sie uns erstens mehr Chancen gibt, unser Ziel zu verfolgen, und wir zweitens dem Entscheidungsprozess selbst Bedeutung beimessen.
Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die Frage, wie das Glück des Lebens des Einzelnen einzuschätzen ist: Ruhm, Reichtum, Gesundheit, Wohlbefinden und soziale Position sind die Zwecke eines guten Lebens.
Umso bedeutsamer erscheint unter diesen Gesichtspunkten die Forderung nach der Befähigungsperspektive: Was können wir tun und was können wir nutzen, um unsere Ziele zu verfolgen?
Die Erfolgsgeschichte eines Einzelnen sei nicht nur auf maximale Anstrengung, sondern auch auf ein entsprechendes soziales Umfeld zurückzuführen. Die traditionelle Gerechtigkeit, die an die Chancengleichheit in Bezug auf den Zugang zu den Institutionen anknüpft, wandelt sich in der Moderne somit nach Auffassung von Sen in Handeln im Rahmen einer Freiheitsverwirklichung.
Kurz gefasst bedeutet dieser, dass wir versuchen, Elemente der Glückforschung und der Verteilungsgerechtigkeit in eine neue Wohlfahrtstheorie aufzunehmen und dass sich die Suche nach einer generellen Theorie auf die Beurteilung der Einzelfallgerechtigkeit verlagert. Um die Realisierungschance der individuellen Freiheit zu bestimmen, führt Sen den Begriff agency ein und argumentiert im Weiteren mit diesem Begriff. Seine Beispiele betreffen vor allem die individuellen Bemühungen und die Chance der Realisierung des Anliegens.
Vor allem nimmt Sen an, dass die Wohlstandsmaximierung durch die gesellschaftliche Entwicklung und die individuelle Freiheit bedingt ist. Was man als Gerechtigkeit in diesem Sinne bezeichnet, umfasst die Komplexität der gesellschaftlichen Bedingungen in verschiedener Hinsicht.
So werden nach den von Sen gewählten Beispielen die Arbeitnehmer in der Industriegesellschaft ausgebeutet, die Bauern in der Agrargesellschaft benachteiligt und die Frauen in der Feudalgesellschaft ausgegrenzt. Er belegt damit die Überlegung, dass das Unrecht fortdauern würde, wenn diese ausgegrenzten Menschen versuchen würden, in dem sie sich in jedem jeweiligen System weiteranzupassen.
Sens Agency-These lässt sich auf zwei zentrale Aspekte verdichten:
1. Die Beziehungen zwischen den individuellen Fähigkeiten und der gesellschaftlichen Wohlfahrt und
2. die Beziehungen zwischen der Freiheit und dem Erreichten.
Zusammenfassend zeigen sich vier Gesichtspunkte, allgemeine Wohlfahrt, individuelles Wohlergehen durch individuelles Handeln, Freiheitsrealisierung durch Wohlstandssteigerung und Chancen für die Realisierung der Ziele.
Die Analyse von Sen zeigt, dass die Förderung der individuellen Handlungsfreiheit zum politischen Imperativ geworden ist. Die Lehre, die daraus abzuleiten ist, lautet: Die politischen Entscheidungsträger der staatlichen Wohlfahrtspolitik sollten hier einen Schwerpunkt setzen. Zu denken ist etwa an Personen, die staatliche Hilfeleistungen empfangen.
Aus dieser Sicht können die Leistungsempfänger soziale Verantwortung in der Ausübung ihrer Freiheit übernehmen und bewusst handeln. Im Endeffekt könnten sie so einen wesentlichen Beitrag für die Wohlstandssteigerung leisten.
Außerdem kann diese Förderung des Wohlstandes auch zur Verbreitung der Demokratie beitragen, womit wir bei dem Thema sind, mit dem sich der vierte Teil beschäftigt.
Öffentlicher Vernunftgebrauch und Demokratie
Im vierten Teil erörtert Sen den Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Vernunftgebrauch und der Verbreitung der Demokratie. Er argumentiert, dass Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit zusammengehören und die politische Mitbestimmung, der Dialog und die öffentliche Interaktion als zentral für ein umfassendes Verständnis von Demokratie gelten müssen.
Nach Sen ist Demokratie nichts Anderes als das Regieren durch Diskussion. Sicherlich führt die Diskussion nicht nur zum Konsens, sondern auch zum Widerstreit und zur Differenz. Sie ist nichts Anderes als die Artikulation der Idee der Gerechtigkeit.
Die Diskussion ist von Natur aus ein Ausdruck des Verlangens nach Gerechtigkeit. Natürlich äußert man in der Diskussion Kritik, die durchaus berechtigt und notwendig anzusehen ist. Sen interessiert sich insbesondere für den Übergang zum Pragmatisch-Praktischen der Demokratie in den Entwicklungsländern.
Dabei wird deutlich, dass für die Durchsetzung des Gerechtigkeitsverlangens die bürgerlichen und politischen Rechte der Bürger und die Rolle der Medien bedeutsam geworden sind. Eine freie Presse kann die praktische Umsetzung unterstützen, weil Medien nicht nur eine Quelle der Information, sondern auch ein Mittel zum Kampf sind.
Als Beispiel dafür verweist Sen auf die Hungersnot in Bengalen, Indien im Jahre 1943, die erst durch Schweigen der Presse in England und Indien möglich wurde. Die Geschichte der Hungersnöte in der Sowjetunion, China, Kambodscha, Äthiopien, Somalia und Nordkorea sind ebenfalls eng mit autoritären Regimen und mit beugenden Medien verknüpft.
Sen setzt sich auch mit der in der abendländischen Philosophie existierenden Diskurstheorie auseinander. Er belegt, dass komplexe Themen wie Religion, Rasse und Identität immer mit der Idee der Gerechtigkeit verknüpft sind, wie auch die öffentliche Diskussion im früheren Indien zeigte.
Die öffentliche Diskussion in Athen in der Antike war ein gutes Beispiel für die Idealvorstellung der Demokratiepraxis, aber Sen bezieht sich auch auf die demokratische Tradition in den asiatischen Ländern als Beispiel für seine These.
Die Symposien der Buddhistischen Kirchen nach dem Tod des Buddhas waren beispielhaft für das asiatische Demokratieverständnis. In drei Konferenzen im Rajagriha, Vaisali und Patna in Indien wollten die buddhistischen Kongregationen die Lehrreden von Buddha einheitlich interpretieren und kodifizieren.
In Streben nach einer gemeinsamen Herangehensweise zeigten die buddhistischen Geistlichen Offenheit, Toleranz und Respekt, obwohl erhebliche Unterschiede bei der Bildung einer herrschenden Meinung für die Praxis fortbestehen.
Ein weiteres Beispiel dafür ist auch in Japan im Jahr 604 n. Christus zu finden. Der buddhistische Prinz Shotoku formulierte die japanische Verfassung im Sinne der Theorie des herrschaftsfreien Diskurses in der Gegenwart aus. Der wohl wichtigste Artikel in der Verfassung war: „Entscheidungen in wichtigen Angelegenheit sollten nicht von einer Person allein getroffen werden. Sie sollten mit vielen diskutiert werden. Lasst uns nicht grollen, wenn andere mit uns uneins sind.“ Die japanischen Verfassungsrechtler bescheinigen, dass diese buddhistisch geprägte Verfassung der erste Schritt in Richtung einer demokratischen Entwicklung war.
Schlussbetrachtung
Insgesamt hat Sen eine wertvolle Arbeit durch seine prägnante Zusammenfassung der theoretischen Analyse und die kritische Diskussion geleistet. Hierbei handelt es sich zweifellos um eine quellenreiche Darstellung für praktische Philosophie und Rechtsethik.
Leser, die die Arbeiten von Sen vorher nie gelesen haben, können von den profunden Ausführungen profitieren. Leser, die mit den Veröffentlichungen von Sen schon vertraut sind, sind vielleicht enttäuscht, weil er kaum neue Erkenntnisse über Hungersnöte, die Kritik der Wohlfahrtstheorie, die Rolle der freien Marktwirtschaft und der Pressefreiheit in diesem Buch geliefert hat. Hier hat der Verfasser die Theorie von Rawls vollständig durchdrungen mit dem Argument, dass die Einzelfallgerechtigkeit als Kriterium erhoben werden sollte.
Ausgehend von seiner fundamentalen Ausführung lässt sich nun feststellen, dass er einen spezifischen Beitrag geleistet hat. Leser, die mit der Autonomie des Einzelnen von Kant und des Diskurstheorie von Habermas vertraut sind, können eine neue Begründungsgrundlage dafür im Rahmen der indischen Rechtstheorie und der buddhistischen Philosophie finden. Schon aus diesem Grund ist das Buch lesenswert.
Schließlich ist ein kritischer Punkt anzumerken: Das Buch gibt Anlass zur Hoffnung auf eine grenzüberschreitend angelegte Debatte über den Gerechtigkeitsgehalt. Gerechtigkeit wird von Sen im Wesentlichen durch zwei Kriterien der lebendigen Demokratie bestimmt: öffentliche Diskussion und Pressefreiheit. Die diskursfähigen Menschen in den Entwicklungsländern sollten an dieser Debatte selbstbewusst teilnehmen.
Es bleiben noch die offenen Fragen: Wie ist dieses Praktische fundierbar, wo sind die diskursfähigen Menschen zu finden und wie kann die fragile Freiheit der Medien in den Entwicklungsländern gewährleistet werden? Dazu hat der Autor keinen alternativen Entwurf angeboten.
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* Der Autor dankt Frau Dr. Bettina Küpper Latusek (Düsseldorf) und Herrn Dr. Gerhard Engel (Hildesheim) für die Korrektur des Textes.
Ein Gedanke zu “Idee der Gerechtigkeit und öffentlicher Vernunftgebrauch in einer demokratischen Gesellschaft”