Kim Them Do

Der 30. April 2025 ist ein Tag von großer Bedeutung in der Geschichte des heutigen Vietnam. Dieser Tag bietet Gelegenheit, über die Ereignisse des 30. April 1975 und den Weg, den die Nation in den letzten fünf Jahrzehnten unternommen hat, nachzudenken.

Der 30. April 1975 beendete den Krieg und eröffnete dem Land eine neue Chance des Friedens, der Wiedervereinigung und des Wiederaufbaus. Die Bemühungen der nationalen Versöhnung und Harmonie waren stark. Dennoch bleiben viele aufrichtige Wünsche der Menschen, die einen Platz im Herzen der Nation haben wollen, oft unerfüllt.  

Am 30. April 1975 begann ein komplexer Prozess der Kontraste, ein tragisches Paradoxon: Während die Südvietnamesen erleichtert sind, den amerikanischen Krieg hinter sich zu lassen, die Nordvietnamesen haben die Bedeutung von Freiheit und Opfer besser verstanden. Der Sieg brachte sowohl die materiellen Errungenschaften als auch Demütigungen und geistigem Schaden für beider Gruppen, was bis heute zu untersdchiedlichen Denk- und Gefühlwesen führt.

In den letzten 50 Jahren hat die Nation viele Höhen und Tiefen erlebt. Das Gemut der Menschen in beiden Teilen des Landes sind ruhiger geworden, und der Eifer, über Gewinnen und Verlieren zu debattieren, ist verflogen. Vor dem Hintergrund der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung und der internationalen Integration des Landes ist der gemeinsame Traum von einer inklusiven liberal-demokratischen Politik und einer gerechten und nachhaltigen prosperierenden Wirtschaft entstanden. Jetzt geht es uns heute darum, wie wir gemeinsam für eine bessere Zukunft arbeiten.

Aber wer sind “wir” hier? Es gibt zwei Hauptakteure: die Regierung und das Volk. 50 Jahre sind für beide eine lange Zeit, um bewusst zu reflektieren, wenn sie auf die historische Vergangenheit zurückblicken und einen gemeinsamen Weg für die Zukunft des Landes finden. Das Erwachen ist ein notwendiger Ausgangspunkt des Denkens, die Fähigkeit, sich selbst zu erleuchten und Entscheidungen über das Leben des Landes und das Glück des ganzen Volkes zu treffen. In der Volksliebe und aus diesem Anlaß sollten wir uns auch miteinander reden, was wir denken und gemeinsam für die bessere Zukunft tun wollen.

Regierung

Die Regierung muss auf die Errungenschaften der historischen Vergangenheit zurückblicken, um die aktuellen Bedürnisse und Wünsche des Volkes in der Gegenwart besser zu verstehen. Diese Reflexion wird es ermöglichen, umfassende, wirksame und durchführbare Reformen für die Zukunft vorzuschlagen.

Die Rergierung hat herausragenden Leistungen bei der Heilung von Kriegswunden mit ehemaligen Feinden der Vereinigten Staaten und der Anhebung der Beziehungen auf ein neues Niveau mit der Bedeutung einer umfassenden strategischen Partnerschaft erzielt. Trotzdem, aus verschiedenen Gründen, ist es ihr jedoch nicht gelungen, sich mit den Menschen in den beiden Regionen sowie im In- und Ausland zu versöhnen.

Aber die neue Situation des Landes bringt der Regierung viele Vorteile. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe:

Erstens sind die antistaatlichen Stimmen der vietnamesischen Gemeinschaft im Ausland leiser. Die demokrarische Bewegungen, die durch Unterstützung der PR-Kommunikation und der Geldhilfe auf die Heimat gesendet werden, haben keine positiven Auswirkungen mehr. Manchmal hier ist im Gegenteil der Fall, ist die Sympathie für das gemeinsame Ziel des Kampfes zwischen beiden nicht mehr stark.

Zweitens hat sich das Ziel der inländischen Demokratiebewegungen realistischer verändert. Mutige Stimmen, die Pressefreiheit, Rechtsreformen und die Achtung der Menschenrechte fordern, sind spärlich, und selbst prominente Gesichter, die von der vietnamesischen Bevölkerung in der Wahrnehmung der Führungspositionen erwartet werden, sind ins Ausland gegangen oder haben ihren Rückzug angekündigt. Daher konzentrierte die Regierung nicht mehr auf die Maßnahme der Bewältigung, sondern fast ausschließlich auf die Einnahme der Überweisungen von mehr als 5 Millionen Vietnamesen im Ausland.

Mit der Gesetzmäßigkeit des Zeitverlaufs muss die am Krieg teilnehmende Generation, ob im In- oder Ausland, ob sie will oder nicht, ableben und die Nachkriegsgeneration trägt kaum eine große Last aus der historischen Vergangenheit. Niemand erzählte es irgendjemandem, beide Generationen zusammen sagten sich, dass die Notwendigkeit der Versöhnung beider Gruppierungen früher oder später in der Stille enden würde, ein natürliches Ergebnis.

Theoretisch weiß die Regierung besser als das Volk, dass sie nicht länger für das Ideal der Diktatur des Proletariats nach der Theorie des Sozialismus einsetzen kann, weil sie in Wirklichkeit niemanden mehr überzeugen kann. Im Grunde genommen ist die sozialistisch orientierte Marktwirtschaft von Natur aus ein Monster, das den Kapitalisten selbst hilft, den Thron als neue Ausbeuterklasse zu besteigen, die der Gesellschaft so viel Unrecht zufügt. Die Regierung hat auch keine andere oder bessere Theorie, die sie auf die neue Situation des Landes anwenden könnte.

Wenn man nach 50 Jahren an der Macht zurückblickt, kann die Regierung im Allgemeinen stolz auf ihre wirtschaftlichen Errungenschaften sein, konkret wird die Wachstumsrate im Jahr 2024 7,09 % erreichen und damit das Ziel von 6,5-7 % übertreffen, und der Warenexportumsatz wird einen Rekordwert von 405,53 Milliarden US-Dollar erreichen, was einem Anstieg von 14,3 % gegenüber 2023 entspricht. Das diplomatische Prestige Vietnams hat sich in vielen wichtigen Foren wie der ASEAN, den Vereinten Nationen, der Mekong-Subregion, APEC, AIPA, IPU, UNESCO, COP 28, der Seidenstraßeninitiative usw. bemerkbar gemacht. In der Tat kann es nicht über eine schwere Katastrophe für das Land hinwegtäuschen: Korruption, Umweltzerstörung, Moralverfall, Bildungskrise, Menschenrechtsverletzungen und soziale Instabilität.

Wer ist für die Situation der Verunsicherung der Gesellschaft und die Unzufriedenheit der Bevölkerung verantwortlich? Natürlich waren die amerikanischen Imperialisten und seine Günstlinge schon lange geflohen und könnten es sich heute nicht verursachen. Aber wer sonst? Die Regierung schreibt dem Land die Minderheit, reaktionäre, moralisch erniedrigte Elemente zu, was eine voreilige Verallgemeinerung ist. Vielmehr sollte die Regierung aufrichtig erkennen, dass die Einparteienherrschaft einen ineffektiven Machtkontrollmechanismus, ein abhängiges Justizsystem, einen Mangel an Transparenz im öffentlichen Leben und Rechenschaftspflicht als Hauptursachen geschaffen hat.  Daher sollte die Regierung eine umfassende politische Reform im Rahmen der Marktwirtschaft und der Zivilgesellschaft durchführen, eine neue und dringendere Notwendigkeit denn je.

In einem Land mit 100 Millionen Einwohnern, in dem es nur etwa 200 politische Gefangene gibt, muss die Regierung derzeit keine großen Anstrengungen unternehmen, um sie zu unterdrücken, sondern sie muss mit dieser Minderheit im Kontext des gegenseitigen Respekts in Dialog treten. Im Vergleich zu Oppositionsbewegungen wie in Syrien, Serbien und der Türkei hat die Regierung nicht viele besorgniserregende Gegner und mehr Vorteile, um damit umzugehen.

Eine Lektion, über die man nachdenken sollte, ist jedoch die Langlebigkeit der Nation und das Leben der Führung der Partei, zwei verschiedene Sache, die fast die Regierung noch nicht unterscheiden kann. Ein Beispiel ist: Anlässlich des neuen Mondjahres der Partei und dem Volk die besten Wünsche „Die Partei feiern, den Frühling feiern“ ist ein bekannter Slogan, bei dem man sich fast alle einig sind, dass die Glückwünsche an die Partei ist etwas bevorzugter.    

Die Zeiten haben sich nach 50 langen Jahren geändert, die Geschichte der heldenhaften Nation ist immer noch voller tragischer Momente, aber die Regierung löscht weiterhin historische Fakten aus. Es ist an der Zeit, dass die Regierung erkennt, dass alle Wahrnehmungen über die glorreiche Vergangenheit eines heldenhaften Landes überprüft werden müssen, anstatt weiterhin die Interpretation zu monopolisieren.

Es gibt zwei typische Beispiele. In der Geschichte des menschlichen Krieges hat es nie einen Fall gegeben, in dem die Führung besonders stolz auf das Ziel des Kampfes war, Soldaten anstelle ausländischer Staaten wie der Sowjetunion und China zum Sterben zu bringen. Was die Ergebnisse betrifft, so war es überraschender: Der Sieger verlor etwa 1 Million 1 Soldaten, der Verlierer etwa 225.000. Es lohnt sich, der Korrelation von Verlusten und der Bedeutung des Sieges nachträglich zu betrachten.

Unser allgemeines Argument ist, dass es notwendig ist, die historische Vergangenheit abzuschließen. In der Tat ist es eine Haltung des Vermeidens und der weisen Selektion, der Versuch, sich an den Ruhm der Vergangenheit zu klammern, Fehler und Täuschungen über die Geschichte zu verbergen.

Glücklicherweise ist orale Narrative immer noch träge, um die Wahrheit zu verbreiten. Die mündliche Geschichte wird nie die Verbrechen vergessen, die die Viet Minh an der Ermordung des Huynh Phu So, den Gründer des Hoa Hao Buddhismus (1946), die Verfolgung des Hoa-Hao-Buddhismus und das Massaker an 5000 unschuldigen Menschen in Hue anlässlich des Mondneujahrs (1968) sind, die die beiden wichtigsten Beispiele sind. Natürlich in jüngster Zeit, gibt es noch unzählige weitere geheime Dokumente, von Literaturquellen aus dem Westen veröffentlicht wurden. Im zivilisierten Zeitalter sind die monopolistischen Formen, die historische Wahrheit zu vermitteln, nicht die Stimme des Gewissens und der Moral. Die Wahrheit wird für immer existieren und uns erleuchten.

Nachkriegsgeneration 

Der 30. April 2025 markiert einen bedeutungsvollen Anfang für die Nachkriegsgeneration, die mittlerweile 50 Jahre alt ist und die politische Verantwortung für die Entwicklung des Landes in der neuen Zeit trägt.

Im Allgemeinen sind die Wünsche der einfachen Menschen mittleren Alters in ihrem täglichen Leben einfach und leicht zu verstehen. Jeder hat praktische Bedürfnisse, die darin bestehen, die persönliche Gesundheit, das Familienglück, den Dorffrieden, ein wohlhabendes Land, die Bürgerrechte und die Achtung der Rechte der Menschen zu schützen. Es ist ein konkreter Rahmen für den Wiederaufbau von Beziehungen ein gemeinsames System für die gesamte Gesellschaft, auf das sich alle einig sind, um es auf praktische Weise umzuleiten.

Aber dadurch ist das gemeinsame Ziel für das Land in der neuen Ära äußerst nobel: die Verfassung der Demokratie, des Pluralismus, der Mehrparteienherrschaft und der Gewaltenteilung zu ändern, die Ethik und Bildung zu verbessern, die Achtung der Intellektuellen und des Rechts zu respektieren, die Menschen- und Bürgerrechte auszuüben und die Natur zu schützen. Es ist dieser Geist des Konsenses über alle neuen politischen Werte, der zum Glauben an den Aufbau der Zukunft wird.

Aber wenn ihnen solche weit hergeholten Ziele einfallen, was sollten junge Menschen dann praktisch tun? Um auf die neue Situation reagieren zu können, müssen sie viel Wissen und Erfahrung ansammeln, aber sie stehen vor einer Vielzahl von Herausforderungen.

Theoretisch sind junge Menschen untauglich, weil sie keine der möglichen Theorien ihrer Eltern geerbt haben. Bisher ist es der Regierung nicht gelungen, das Funktionieren von sozialistisch orientierter Marktwirtschaft und Rechtsstaat zu erklären und hat auch offen bestätigt, dass es ihr unmöglich ist, die sozialistische Orientation bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zu vollenden. Daher finden junge Menschen keine neue Theorie, die sie lernen und umsetzen können.

Woher kommt das neue Bewusstsein für junge Menschen? Offensichtlich kommt es aus dem Bildungssystem nach 1975. Wenn ein Bildungssystem über Generationen hinweg vom Weg abgekommen ist und den Glauben an den Wert der Gesellschaft als Ganzes verloren hat, ist Rückständigkeit die Konsequenz. Die Realität ist noch pessimistischer, weil junge Menschen weniger daran interessiert sind, Geschichte und liberale Demokratiebewegungen zu lernen und zu lieben. Sie hat diese Werte nicht studiert und praktiziert, hat sie nicht die notwendige neue Einsicht.

Was lernen junge Menschen in Bezug auf die Erfahrung, um sich auf die Zukunft vorzubereiten? Wohl kaum. Die heroischen Kampferfahrungen unserer Vorgänger, während der Augustrevolution (1954) und des Großen Sieges des Frühlings (1975) sind im Kontext der wirtschaftlichen Globalisierung, der Industrialisierung, der Digitalisierung und der internationalen Zusammenarbeit nicht mehr geeignet für den nationalen Aufbau.

Um dies zu kompensieren, müssen möglicherweise auch neue Erfahrungen mit der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik in den nordischen Ländern in Europa untersucht werden. Die Achtung von Demokratie, Gleichheit, Recht und Wohlfahrt für das ganze Volk in diesem Modell muss im Vergleich mit der sozialistischen Politik diskutiert werden. Im Allgemeinen muss Vietnam einem spezialisierten Modell folgen, das die nationale Identität und Geschichte in einem gemeinsamen Rahmen gemäß den universellen Werten des Welttrends widerspiegelt. Das Schwierigste ist hier natürlich der Unterschied im kulturellen Kontext und in dem Umfeld, in dem es angewendet wird.

Wird die Regierung nach 50 Jahren Herrschaft in einem vereinten Land bereit sein, die politische Macht an die jüngere Generation zu übergeben? Sollten junge Menschen solche Hoffnungen haben? Wahrscheinlich nicht. In einer chaotischen Gesellschaft kann niemand vorhersagen, wie politische Innovation zustande kommen wird. Es hängt alles von einer Vorstellung von der Zukunft ab, von unterschiedlichen Arten, die Bedeutung von Trends zu bewerten, und von Normen, um Unterschiede zu lösen.

Obwohl die Regierung dazu aufruft, dass das Land in eine neue Ära eintritt und die Partei ihre umfassende Führungsrolle besser begreift und den Kontrollmechanismus weiter verbessert, müssen sich junge Menschen fragen, ob das eine gute Nachricht für das Land ist. Was verstehen sie über die jüngsten Reformen, insbesondere über die Aussichten auf Demokratisierung und Erneuerung des Landes?

Die vielen persönlichen Säuberungen und zwielichtigen Machtwechsel auf allen Ebenen der Zentralkomitees der Partei und der Regierung signalisieren ein neues, pessimistischeres Signal: genau wie das, was in China geschieht, nämlich die Konzentration der Macht im Parteisystem in den Händen von Einzelnen.  Das heißt, die Macht des Einzelnen wird zunehmen und ein härteres Polizeiregime als je zuvor wird entstehen.

Kommt in dieser Richtung der Aufruf zur „Erneuerung des Denkens“ in der „neuen revolutionären Periode“, um „historische Entscheidungen“ zu treffen, aus Aufrichtigkeit, ist er eine Voraussetzung für die Ausweitung der Beteiligung der jüngeren Generation am neuen System?

In der Tat bereitet der 14. Parteitag einen langfristigen Plan für die Zukunft vor: die Umstrukturierung der Partei, um die volle Kontrolle über den Organisationsapparat zu übernehmen und die Macht des Kopfes zu personalisieren, was eher ein tödliches Bedürfnis als eine Demokratisierungsbemühung für das Land ist, d.h. die Übergabe der politischen Macht in einem transparenten, legalen und langfristigen nationalen Interesse an die junge Generation darf nicht festgelegt werden. Infolgedessen werden junge Menschen nicht die Möglichkeit haben, sich an diesem politischen Reformprozess zu beteiligen.

Das Land befindet sich im Wandel, und umfassende politische Reformen sind die beste Lösung, die Stärke des ganzen Volkes, das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist das Mittel, und die Generation in ihren 50ern wird die Hauptkraft in diesem Prozess sein. Wagen sie den Traum von einer Politik mit umfassender Freiheit, Demokratie, wirtschaftlicher Entwicklung, Gerechtigkeit und Wohlstand auf lange Sicht und haben sie den Mut, sich an diesem Ziel zu beteiligen? Das ist die neue Herausforderung, die diskutiert werden muss.

Die Nachkriegsgeneration muss sich der gegenwärtigen Lage der Nation und der Frage der Lösung bewusst sein; die Feststellung des Willens, einen Beitrag zum Land zu leisten, die Frage der Entschlossenheit. Wenn wir immer noch in der Zuschauerstellung einnehmen, in der Stimmung der freiwilligen Sklaverei in Kauf nehmen und die Partei immer noch das Beste der Versorgung hast und wir auf das Glück warten wollen, das uns die Partei schenkt, dann wird das Land auch in Zukunft so weiterleben, wie es in den letzten 50 Jahren war. In der neuen Ära kann niemand das Land im Namen der jüngeren Generation verändern. Die zentrale Frage ist, ob die junge Generation es wagt, die richtige Wahl zu treffen und entschlossen ist, für einen Neuanfang zu handeln.